…Wunder geschehen…

Geschichten wider die unerträgliche Abschiebung junger Menschen

“Wunder geschehen…”
“…man weiß nur nicht wann.” 

sagte die  Psychoanalytikerin Erika Freeman im Gespräch mit Markus Kupferblum im Rahmen der Wiener Vorlesungen.

Wunder scheint es wahrlich zu brauchen, um endlich einen humanen und vernünftigen Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu finden, die Österreich ihr Daheim nennen, ohne die richtigen Papiere dafür zu haben.

Einen sicheren Hafen zu haben, ist wesentlich um sich dem Risiko von Entwicklungsaufgaben stellen zu können und an ihnen zu wachsen. Oder um es mit den Worten des folgenden Märchens zu sagen: die Möglichkeit Da-Heim sein zu dürfen und nicht ins Dort-Hin abgeschoben zu werden.

Da-Heim hat vielerlei Gestalt und zeigt sich in Beziehungen die tragen, in Gesetzen und Institutionen, die rechtlichen und gesellschaftlichen Schutz geben, in Orten die vertraut sind.

All das ermöglicht es erst an den mit Risiko und Rauscherfahrungen reichen Entwicklungsaufgaben der Kindheit und Jugend zu wachsen, ohne ständig in der Gefahr existenzieller Bedrohung zu sein. 

“Wunder geschehen…”

…jedenfalls im Märchen… 

Dort gibt es sie gewiss, die wundersamen Lösungen für ausweglose Probleme.
…aber nicht nur dort.

Und so erzählen die nachfolgenden Zeilen beides zugleich: 

ein Märchen, in dem die Kinder mit den leeren Händen um ihr Da-Heim bangen und  

die Geschichte der Initiative “Schuldlos Papierlos” die für über zweihundert “Einzelfälle” einen lebensentscheidenden Unterschied machte und 1999 in der Mobilen Jugendarbeit in Wien ihren Ausgang nahm. 

Das Märchen von den Kindern mit den leeren Händen

[Bilder zum Märchen: Weblink]

“Es war einmal, vor langer langer Zeit, da gab es ein Land namens Da-Heim. Darin lebten viele Kinder und manche von ihnen hatten leere Hände. Das missfiel dem König, denn er hatte verboten,  dass irgendjemand in Da-Heim leere Hände haben sollte. So flog dann und wann ein Brief zu diesen Kindern.
Aber nicht um die Leere zu füllen, sondern um den Nebel zu bringen und wenn der Nebel kam wussten die Kinder, dass sie ihr geliebtes Da-Heim verlassen mussten. Immer. Ohne Ausnahme.
Der Nebel sandte sie an einen Ort, den die Briefe “Heimat” nannten, aber die jungen Menschen wussten alle, dass der wahre Name des Ortes “Dort-Hin” war. Ein Ort der für jeden und jede anders und für alle fremd und bedrohlich war. Ihr geliebtes Da-Heim würden viele nie wieder sehen, es würde im Nebel verschwinden und als leere Stelle in ihrem Herzen zurückbleiben.

Die verschwundenen Kinder wurden von vielen vermisst, so auch von den Gnomen die den Träumen und Wünschen der Kinder lauschten. Manche Träume waren laut und schrill, manche fest und schwer, manche leicht wie eine Feder und die Gnome mühten sich, den Träumen der Kinder Platz zu schaffen.
Wenn jedoch die Briefe den Nebel brachten, dann wurden die Träume spröde und zersprangen in scharfe Scherben, die in die Hände und Herzen der Kinder schnitten. Alles was die Gnome tun konnten, war ein paar Scherben aufzusammeln und den Kindern nachzusehen, wie sie in den Nebel verschwanden, bevor die Gnome sich wieder umwandten… und hofften, dass dies der letzte zersprungene Traum gewesen sein möge.

Eines Tages regte sich Gemurmel unter den Gnomen. Die Scherbensäckchen waren voll, die Gnome ächzten unter der Last. Etwas musste sich ändern, bevor der Nebel noch mehr Kinder von Da-Heim nach Dort-Hin tragen würde.
Da packten die Gnome die Traumscherben sorgfältig in Säcklein feinster Spinnenseide und standen wenig später ratlos vor dem Palast des Königs. 
Und doch wollten sie nicht einfach wieder zurück. 

Also begannen sie an die Tür zu klopfen, erst zaghaft, dann lauter, 
…doch die Tür blieb verschlossen.

Also begannen sie mit Elfen, Wichteln und anderen Freunden der Kinder gemeinsam zu tanzen und zu diskutieren, im luftigen Park und im bunten Tanzschuppen, 
…doch die Tür blieb verschlossen.

Also begannen sie von den zerbrochenen Träumen zu erzählen und selbst das harte Tor wurde morsch und löchrig. Hindurch schritten die Gnome in langer Reihe.
Sie kamen vor dem König zu stehen, während die Scherbensäcklein klirrten und vor den Toren der Nebel durchs Land floss.
Aufgeregt und dennoch mit ruhiger Hand fügten sie behutsam die Scherben zusammen, während sie auch dem König von den Kindern erzählten, die diese geträumt hatten. Von den Kindern die der Nebel von Da-Heim nach Dort-Hin getragen hatte.
Nach langem Schweigen sagte der König: “Nennt mir die Namen jener Kinder mit den leeren Händen, deren Geschichten ihr mir erzählt habt. Jenen die mir wohlgefallen, will ich einen Brief der Hoffnung geben, auf dass der Nebel ihnen nichts anhaben mag.”

Und so geschah es, dass sich die Hände und Herzen hunderter Kinder mit Hoffnung füllten und Da-Heim zu ihrem Zuhause wurde, aus dem sie kein Nebel mehr entführen konnte.

… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, glücklich und zufrieden, dort wo ihr Herz Da-Heim ist…”

ENDE (fast…)

Schuldlos Papierlos – in der echten Welt

“Wunder geschehen…”
“…man weiß nur nicht wann…”
“…und man muss etwas dafür tun, dass sie geschehen können” 

würde Mrs. Freeman hier vielleicht anfügen.

Ende der 1990er Jahre bildete sich in Wien aus der Mobilen Jugendarbeit heraus eine Initiative, die sich nicht damit abfinden konnte und wollte, dass junge Menschen die in Österreich aufgewachsen waren, gegen ihren Willen in eine fremde “Heimat” abgeschoben wurden. Den jungen Menschen war gemeinsam, dass sie kein Recht hatten in Österreich zu bleiben und gleichzeitig schuldlos an ihrer Misere waren. Es waren Entscheidungen anderer, erwachsener, Menschen die dazu führten, dass die Kinder und Jugendlichen schuldlos papierlos waren. Egal wie sehr sie sich selbst bemühten, änderte das nichts an ihrer Lage ohne Aufenthaltstitel zu sein.

Unter dem Titel “Schuldlos Papierlos” begannen sich etwa 30 Jugend(sozial)arbeiter*innen 

einzusetzen, betroffenen jungen Menschen eine legale Zukunft in Österreich zu ermöglichen. Die Initiative begann zu wachsen und machte die prekäre Lage öffentlich und ausdauernd zum Thema. Im Rahmen von Clubbings, im Gespräch mit Politiker*innen, bei Diskussionen im Park, mit der Hilfe von Filmschaffenden und als Petition.

Der Weg führte an die Tore des Innenministeriums, dorthin wo über Abschiebung und Aufenthalt entschieden wurde. In enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Beamten, konnten Fälle eingebracht und auf verkürztem Weg “wohlwollend” geprüft werden.

Im Laufe von drei Jahren machte die Initiative für über 200 Kinder und Jugendliche den Unterschied zwischen “Da-Heim” und “Dort-Hin”.


Selbst im Rückblick liest es sich in den damaligen Berichten wie ein kleines Wunder was unter den Innenministern Schlögl (rot-schwarze Regierung) und Strasser (schwarz-blaue!!! Regierung) möglich war. Als Einzelfalllösung zwar, ohne das Grundproblem zu lösen, aber 200+ Einzelfällen sind schon eine beachtliche Reihe, vor allem in einer Zeit in der der politische Wind kalt aus der anderen Richtung bläst.

Also ein Happy End?
Leider nicht. Werfen wir noch einen Blick darauf wie das Märchen ausgeht:

Bitterer Nachsatz

“… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, glücklich und zufrieden, dort wo ihr Herz Da-Heim ist…

…während sich die Augen jener Kinder mit Tränen füllten, die von der Gnade des Königs unberührt waren, denn sie würde der Nebel allemal holen…ENDE”

…und so bleibt ein bitterer Nachgeschmack, dass sich das Happy End nur auf wenige erstreckte. Auf jene die Glück hatten und Unterstützung bekamen. 

Wir fordern ein Märchenwunder mit einem echten Happy End. Etwa so: 

“Nach langem Schweigen sagte der König: “Lasst uns diese Widersinnigkeit ein für alle mal aus der Welt schaffen. Wer in Da-Heim aufgewachsen ist, soll in Da-Heim bleiben können. Jetzt und für immerdar.”  …und alle jubelten und frohlockten für sich und alle nachfolgenden Kinder, die nun leben durften wo ihr Herz Da-Heim war.”

Happy-End… endlich.

Recht statt Gnade

“Wunder geschehen…”
“…man weiß nur nicht wann.” 
“…und man muss etwas dafür tun, dass sie geschehen können” 

Wunder scheint es zu brauchen, um eine Einwanderungspolitik weg zu zaubern, die seit Jahrzehnten ihr hässliches Gesicht zeigt und nicht davor zurückschreckt, Existenzen mutwillig zu zerstören, Biographien zu brechen und Potentiale und Träume von Kindern und Jugendlichen zerspringen zu lassen.

Mit einem gelegentlichen Gnadenakt ist das nicht getan, denn die Tragödien wiederholen sich, solange es keine rechtlich verbindlichen Regeln gibt, die das Kindeswohl in diesen Fällen schützen. Denn die rechtliche Verpflichtung dazu gibt es in Form der Kinderrechte bereits im Verfassungsrang – aber (noch) nicht in der Praxis.

Wir wollen “Schuldlos Papierlos” als kleines Wunder von damals wieder ins Gedächtnis rufen, als Mutmacher, als Inspiration und als Hoffnungsschimmer, aber auch als Mahnung, dass es nicht beim Gnadenakt im Einzelfall bleiben darf, sondern ein Bleiberecht braucht, das den Kinderrechten entspricht. Die Forderungen von damals klingen erstaunlich aktuell.

Es wird wohl noch einiges brauchen, bis die Tür morsch wird und sich nachhaltig etwas für die Betroffenen ändert. 

Mut…

…wollen wir mit diesen Geschichten machen. 

Mut als Jugendarbeit zu diesem Thema Stellung zu beziehen, in welcher Form auch immer. 

Denn es trifft in den Kern des Lebens jungen Menschen mit denen wir arbeiten. Unsicherer Aufenthalt ist keine abstrakte Materie, sondern eine ganz konkrete Bedrohung die sich belastend über das Leben junger Menschen legt. Sie teilen uns das immer wieder mit und versuchen trotzdem ihr Leben zu leben und Hoffnung zu haben. Betroffene in ähnlicher Lage lässt Nina Horacek im Falter Artikel “Die Rot-Weiß-Roten Träumer” zu Wort kommen.

Auf unserer Website “Wunder geschehen” haben wir Unterschiedliches gesammelt und laden zum Durchstöbern, Weiterverwenden und aktiv werden ein.

Damit endlich auch das Notwendige passiert und die Gnade im Einzelfall, Platz für das Recht im Sinne des Kindeswohls machen kann.

…Wunder geschehen…

eine Initiative von Back Bone – Mobile Jugendarbeit Brigittenau

www.backbone20.at/wunder-geschehen

Autor:
Martin Dworak

risflecting® focal point
Jugendsozialarbeiter bei Back Bone – Mobile Jugendarbeit

info@risflecting.eu

Martin Dworak

Seit 2009 Mitglied des risflecting-Pools mit Schwerpunkt auf Rausch und Risiko in Bewegung, seit 2021 Leiter des Studienwegs risflecting®.