Die neu aufflammende Gewalt im Nahen Osten in Folge des Hamas Terrors vom 7.10. und die darauf folgenden Militärschläge Israels, schreien nach klarer Positionierung und Abgrenzung. Nach der Eliminierung von Graubereichen, die differenzierte und widersprüchliche Einschätzungen zulassen.
Es ist ein erst schockierender und dann trauriger Moment für alle, die auf langsame Entspannung, Annäherung und schlussendlich Frieden in diesem Konflikt gehofft haben. Nun scheint die Hoffnung naiv und schlecht informiert, dass historische Wunder sich wiederholen könnten. Wie etwa der Friedenschluss zwischen Todfeinden in West- und Mitteleuropa und die daraus langsam wachsende Gemeinsamkeit und Vertrauen.
Die Schaffung und Erhaltung von uneindeutigen Graubereichen, die sich nicht klar in Polaritäten einteilen lassen, halte ich für eine wesentlihce gesellschaftliche Errungenschaft. Dass es sich dabei um ein wichtiges Risiko handelt, das es sich einzugehen lohnt, habe ich im Artikel „Graubereiche, “Gottes Eindeutigkeit” und der Mut zur ungewissen Vielfalt“ beschrieben. Der Text ist im November 2020, kurz nach dem Terroranschlag in der Wiender Innenstadt entstanden.
Die aktuellen (Mitte Oktober 2023) Bilder der Reaktionen auf den Straßen europäischer Städte, lassen mich vermuten, dass (nicht nur) die Jugendarbeit sich wieder vermehrt mit dem Thema des gewaltätigen Extremismus – aus verschiedenen Ideologien gespeist – auseinandersetzen werden muss. Es wird wieder harte Arbeit sein, Graubereiche zu schützen und zu schaffen, in denen Begegnung und Miteinander möglich sind. Miteinander im Sinne von Mit-Anderen – wertschätzend gegenüber dem Menschen und kritisch gegenüber Haltungen und Handlungen. Die akzeptierende Grundhaltung als Grundsatz der Jugendarbeit, wird in dieser Situation einem Belastungstest ausgesetzt. Den sie aber bestehen kann. Auch wenn uns dieser Krieg hier erreicht, haben wir den Luxus die Grauzonen nicht im Bomben- und Raketenhagel schaffen zu müssen.
Wie die Arbeit mit jenen Jugendlichen, die viel Wut im Bauch und Sympathien für Ideologien der Gewalt im Herzen tragen, gelingen kann und sie sogar zu Verbündeten macht, im Ringen um eine vielfältige Gesellschaft die Uneindeutigkeiten aushält, beschreiben Fabian Reicher und Anja Melzer in ihrem Buch „Die Wütenden: Warum wir im Umgang mit dschihadistischem Terror radikal umdenken müssen„. Sehr zu empfehlen, um Handlungsfähigkeit in diesem Bereich zu erweitern oder zu erlangen.
Ein Mensch der viel darüber erzählen kann, was es heißt den Krieg zu erleben und fähig ist nach dem weiten Weg der Flucht das Unsagbare in Worte zu fassen, ist der junge Poet Omar Khir Alanam. Unseren gemeinsamen Dialog im Rahmen der “Schattendorfer Horizonte 2021” eröffnete er mit folgenden Worten:
“Ich bin das Risiko meiner Eltern,
in einem Moment der Liebe und des Zitterns…”
Der Dialog im Rahmen der “Schattendorfer Horizonte 2021” führt durch eine Themenvielfalt, die von Reise und Flucht, von innerer und äußerer Heimat, von Trauma und Hoffnung, von Familie und Profession erzählt… und dem Risiko das in jeder Begegnung mit anderen Menschen steckt.
Den Dialog zwischen Omar Khir Alanam und Martin Dworak gibt es nachzusehen. Im selben Video erkunden davor Forscher und Autor Joachim Bauer und der Kinder- und Jugendpsychiater Winfried Janisch die Fähigkeit zur “Empathie…” und ihre Rolle für umfassende Gesundheit in Zeiten des Risikos. Mit einleitenden Worten von Gerald Koller.
Wir tragen Verantwortung Jugendlichen die hier aufwachsen, die Möglichkeiten zu schaffen nicht von einer Schwarz-Weiß Polarisierung gefangen genommen zu werden. Für viele junge Menschen ist die Bedrohung des Krieges nicht neu, sondern hat sich tief in die Seelen der Familien eingegraben, egal ob in Israel, Gaza, Tschetschenien, Afghanistan, Syrien, Ukraine…
Sich als Jugendarbeiter:innen in diesen Graubereich zu begeben, zieht Fehltritte nach sich, denn der Weg führt in ungewisses Gebiet und junge Menschen sind immer einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt und haben auch die Möglichkeit sich gegen Angebote der Jugendarbeit zu entscheiden. Was sich jedoch in den letzten Jahren klar gezeigt hat: Beziehungs- und Vertrauensaufbau sind wesentliche Faktoren um Menschen zu ermöglichen sich als Teil einer friedlichen Gesellschaft zu begreifen, die Ambivalenzen aushalten kann und damit den Predigern der Eindeutigkeit den Boden zu entziehen.
Martin Dworak (risflecting® focal point)
info@risflecting.eu