“Im Nachhinein betrachtet, war es nicht so wichtig
Doch es fickt nun mal deinen Kopf, wenn du noch nicht gefickt bist”
Antilopengang „Bang Bang“
Sexualität in der Lebenswelt Jugendlicher (und darüber hinaus) zeigt sich als zwischen Überdosis und Tabu hin und her gerissen.
Von der Krone-Seite-7, über Werbung bis hin zu einschlägigen Internetseiten, ist Sexualität eine Rauschquelle, deren Zugang sehr leicht zu bekommen ist. Gleichzeitig wartet auf der anderen Seite ein Tabu, über das geschwiegen wird. Wenn es um die individuelle Gestaltung, das Entdecken & Erleben von Sex abseits von comic-hafter Übersteigerung und um Ängste & Hoffnungen geht, fehlen oft die Worte, ebenso wie geduldige Gesprächspartner*innen. Die Erwartung alles zu wissen bevor man es erfahren kann, sorgt bei jungen Menschen für großen Druck. Verstärkt wird dieser Druck durch explizite Bilder zu allen möglichen Fantasien, die sich im Internet finden lassen.
„Der Geschlechtsverkehr war dumm, erst aufgeregt, Potenzproblem
Bin nach zehn Sekunden gekommen, fing nach zwanzig an mich zu schämen
Aber hab‘ am nächsten Tag den Brüdern dann erzählt
Dass ich jetzt voll der geile Ficker bin und weiß wie alles geht“
Antilopengang „Bang Bang“
Das Thema Sexualität erlebte dieses Jahr ein besonderes Frühlingserwachen. Die wohl sichtbarste Konsequenz war das fast vollständige Verschwinden von Kennenlernen, Anbandeln, händchenhaltend Spazieren, am Parkbankerl knutschen, etc… aus dem öffentlichen Raum. Wenn das Recht nach Punkt und Beistrich befolgt wurde, auch aus den Privaträumen, denn wenn man mit der neuen Liebe nicht schon zusammenwohnte, hieß es “Abstand halten”.
Für viele Jugendliche begann dieser Sommer als ein Sommer der sexuellen Verschiebung.
Einerseits weil sie die Erfüllung ihres realen Bedürfnisses zeitlich weiter nach hinten verschieben mussten. Andererseits weil die Pornoindustrie offensiv zu einer Verschiebung zur digitalen Ersatzbefriedigung einlud. So stellte Pornhub schon im März sein Premiumangebot gratis, wie GQ berichtete.
Die neuerlich steigenden Infektionszahlen und die damit einhergehende Verschärfung der Maßnahmen, bedeuten für viele Jugendliche ein neuerliches “leider Nein”, wenn es um gemeinsam gelebte Sexualität geht. Tabuisierung, Unerreichbarkeit und realitätsferne Darstellungen: ein guter Nährboden um Mythen wachsen zu lassen und Anspannung aufzubauen.
Niederschwellige Angebote um über Sexualität reden zu können, eigene Freuden und Ängste zu thematisieren und Zugang zu hochwertigen Informationen zu bekommen, werden also auch in der neuen Normalität eine wichtige Rolle in der Entwicklung junger Menschen spielen – wie das gelingen kann, ist am Beispiel des Workshops von Back Bone und ISP nachzulesen.
Jugendarbeit ist hier eine zugewandte Begleiterin, die zugleich ernst nimmt und lachen kann. Sie befähigt im Dialog den Weg zwischen Massensexualisierung und individueller Sprachlosigkeit zu finden und so ein Stück weit zur Balance im Rausch- und Risikogebiet Sexualität beitragen.
Nur fertige Antworten hat die Jugendarbeit keine bereit 😉
Martin Dworak
Jugendsozialarbeiter bei Back Bone und risflecting® focal point