Dass rauschhaftes Erleben Teil menschlichen Lebens ist, zeigt schon die Tatsache, dass der wesentliche lebensspendende Akt der Sexualität in der menschlichen Biologie als Rauscherlebnis angelegt ist. Rausch bedeutet Ausstieg aus Alltagskonstruktionen, Verlassen der gewohnten Normen und Veränderung des Zeitempfindens. All das sind Sehnsüchte des Menschen, die durchaus auch im Sinne von Entspannung und Distanzierung positiv genützt werden können.
Selbstverständlich ist der Rauschbegriff vieldeutig: Vom Liebesrausch bis zum Blutrausch ist in ihm alles vertreten und somit auch die janusköpfige Doppelgestalt angesprochen. Eine Auseinandersetzung mit dem Rauschhaften muss sich daher auch mit den vier Dimensionen und Intensitätsgraden der Rauscherfahrung auseinandersetzen.
Während das berauschende Erlebnis noch keine hohen Risiken in sich trägt, bedarf es in der Ekstase hoher Verantwortung und Vorbereitung, um mit den freigewordenen psychischen Kräften umgehen zu können. Welche Rauschintensität Menschen suchen, ist höchst individuell und auch kaum vorher bestimmbar. Eine Auseinandersetzung damit kann aber Bewusstheit und damit erhöhte Verantwortung bringen.
Anhand des hier gezeigten Modells lässt sich auch deutlich machen, dass Männer und Frauen verschiedene Rauscherfahrungen suchen: Während es bei Frauen sehr oft um das berauschende Erlebnis bis zur Euphorie geht (die aber immer noch ein Stück weit Kontrolle über das eigene Handeln zulässt), suchen insbesondere junge Männer sehr oft die Ekstase, die Erfahrung der Grenze oder Grenzüberschreitung, um sich darin selbst zu spüren.
Die verdrängende Fluchtwirkung des Rausches nimmt in Gesellschaften immer dort zu, wo kulturelle Brüche und Identitätsmankos auftreten: Das war schon im alten Rom so und bewies sich auch in den letzten Tagen der Naziherrschaft im belagerten Berlin.
Wenn Jugendliche heute also vermehrt zu binch-drinkingOrgien neigen, so ist das m.E. zuerst Anzeichen einer kulturellen Problematik und weniger einer individuellen oder sozialen. In einer Welt, deren Zeitwahrnehmung sich seit dem Jahr 1960 verfünfunddreißigfacht hat, alles also immer schneller eintreten soll, ist auch für den Umgang mit Rausch keine Zeit. Er soll schnell und heftig in seiner Wirkung sein und wird somit zum Spiegelbild einer getriebenen Gesellschaft. Dies gilt nicht nur für den Umgang mit legalisierten oder illegalisierten (ganz wichtig: nicht von legalen oder illegalen Substanzen zu sprechen, da es sich immer um politische Prozesse handelt!) Drogen, sondern auch mit Medien, dem Spiel oder dem Einkaufen.
risflecting® geht mit all diesen Phänomenen gleichermaßen um, weil sie nur verschiedene Spitzen ein und des selben Eisbergs sind. Der Handlungsansatz zu Kultivierung des Umgangs mit Rausch und Risiko kann daher auf alle Rausch- und Risikoerfahrungen angewandt werden.
Rauscherfahrungen wurden ja jahrzehntausende lang im rituellen Gesamtzusammenhang gemacht und hatten schon früh Ventil- wie auch religiösen Charakter. Schon Jäger- und SammlerInnen der Frühzeit bissen auf ihren Wanderungen vermutlich einmal auf eine alkaloidhältige Pflanze und begriffen bald, dass dies der Entspannung wie auch der Gottesschau dienlich war. Diese Pflanzen wurden fortan unter die Obhut des Schamanen/der weisen Frau gestellt. Entweder berauschten sich nun diese stellvertretend für den Stamm (heute tun das noch die Priester symbolisch im Messopfer mit dem Wein) – oder der ganze Stamm berauschte sich nach streng rituellen Vorschriften: Reinigung, Vorbereitung, Disziplinierung gingen der Drogeneinnahme voraus, Nachbereitung und Aufarbeitung im Alltag folgten ihr.
Erst die Aufklärung und ihr Bestreben nach anthropozentrischer Klarheit verlor den Umgang mit Rausch aus dem Auge. Und wie es so ist: Verdrängtes schafft sich umso heftiger neue Bahn. Und mit der Industrialisierung und dem damit verbundenen Identitätsschock begann die Frustverdrängung durch Alkohol sich epidemisch auszuweiten.
Im 20. Jahrhundert schließlich wurde der Rausch als wirtschaftlicher und politischer Marktwert entdeckt: Neue Drogen wurden erfunden (Heroin für die Helden an der Front), Kriege mit ihnen geführt, Konzerne voll undurchsichtiger Beziehungen errichtet. Die Berauschung ist somit – entritualisiert und ihrer psychosozialen Bedeutung enthoben – zum berechenbaren Planungsfaktor für wirtschaftliche und politische Interessen geworden.
Zuerst einmal sind viele Fördermaßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung, die auf Stärkung der allgemeinen Lebenskompetenzen zielen, Grundlage für risflecting®:
So ist eine allgemeine Konsumkompetenz wichtige Voraussetzung für die speziellen Kompetenzen, die risflecting® anstrebt – damit ist sowohl gemeint, altersgemäß Substanzen und entsprechende Quantitäten zu konsumieren (ein zu früher Konsum psychoaktiver Substanzen gilt nach allen Untersuchungen als schädigend) als auch einen Rhythmus zwischen Genuss- und Verzichtsituationen zu entwickeln: Der vom Dopamin-Erwartungssystem gesteuerte Lustimpuls, als angenehm empfundene Zustände zu wiederholen, führt, wenn er nur auf immer die selbe Weise befriedigt wird, zu immer niedrigeren Endorphin-Ausschüttungen im linken Scheitellappen des Stirnhirns. Dosissteigerungen sind in der Regel die Folge. Der Rhythmus zwischen Genießen und Verzichten ist daher ein ebenso wesentliches präventives Ziel wie auch die Entwicklung verschiedener Rausch- und Risikostrategien nach der alten Weisheit „Variatio delectat“ (vgl. auch das Klaviermodell nach Koller, 1994).
Die Kommunikation über Rausch- und Risikosituationen und -erfahrungen gelingt nur dann, wenn in allen Bereichen des Alltags Kommunikation trainiert und angewandt wird.
Übung in Selbstwahrnehmung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die eigene Befindlichkeit situativ und aktuell wahrzunehmen: Beginnend bei der sensiblen Wahrnehmung der körperlichen Befindlichkeit in Stress- und Entspannungssituationen über die Entwicklung einer adäquaten Sinnlichkeit auf allen Ebenen bis zur Integration von persönlichen und sozialen Ritualen, die das Alltägliche wie das Außeralltägliche strukturieren. Die rausch- und risikopädagogischen Erfahrungen mit risflecting® wiederum geben der präventiven Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen ihrerseits wiederum drei Anregungen mit auf den Weg:
- Der Diskurs über Rausch und Risiko kann nicht allein vernunftgeleitet geführt werden. Erst ein interaktives emotionales Geschehen sichert nachhaltige präventive Wirkungen.
- Im Rahmen aktuell durchgeführter qualitativer und quantitativer Erhebungen wurde deutlich, dass Jugendliche und MitarbeiterInnen der Jugendhilfe Anliegen, Ansätze und Sprache der Prävention oftmals nicht verstehen und als von ihrer Realität abgehoben empfinden. Alltagsnähe ist also angesagt. Neben dem komplexen Geschehen struktureller Maßnahmen sollten wir in der Kom-munikation mit Jugendlichen nicht vergessen, zwei jahrtausendelang bewährte Hilfen zur Rausch- und Risikobalance anzubieten: „Nimm nichts – oder nicht viel, wenn Du schlecht drauf bist. Guter Rausch braucht gute Stimmung – und Zeit“ und: „Halt Ausschau nach Leuten, mit denen du deine Erfahrungen teilen kannst. Auch danach.“
- Die Vorbildrolle erwachsener BegleiterInnen ist nicht zu unterschätzen, wenn es um Rausch und Risiko geht. Hier ist Offenheit angesagt. Über Grenzziehungen, Informationen, pädagogische Appelle und Maßnahmen bzw. -regelungen hinaus schulden wir Kindern und Jugendlichen vor allem eine ernsthafte und aufmerksame Einführung in die Bereiche des Außeralltäglichen.
- Rausch- und Risikoerfahrungen auf persönlicher, sozialer und gesellschaftlicher Ebene enttabuisieren.
- Diese Erfahrungen für die Alltags- und Lebensgestaltung nutzbar machen.
- Verantwortung für außeralltägliches Verhalten durch Rauschkultur und Risikokompetenz übernehmen. Dies meint insbesondere die Vor- und Nachbereitung solcher Erfahrungen durch die bewusste Wahrnehmung und Gestaltung von innerer Bereitschaft und äußerem Umfeld.
Dialoggruppen von risflecting® sind nicht ProblemkonsumentInnen von Substanzen und Missbraucher, nicht Personen und Gruppen mit exzessivem Risikoverhalten. Solche Personengruppen brauchen Beratung und Hilfestellung.
risflecting® zielt vielmehr darauf ab, jener großen Gruppe von Personen, die Risikosituationen unbewusst eingehen und Rauscherfahrungen ohne Vor- und Nachbereitung konsumieren, bewusste Möglichkeiten zur Auseinandersetzung anzubieten.
Da Risikoverhalten je nach persönlicher Vorliebe und sozialem Setting variiert, sind Risikotypen als durchgängige Handlungsstrategie nicht eindeutig diagnostizierbar – wir haben es in unserem pädagogischen Handeln also immer mit einer Melange verschiedener Handlungsdynamiken und Einflussfaktoren zu tun. Hier strebt risflecting® Balance an: So brauchen in mancher Situation die einen mehr Risikobereitschaft, die anderen wiederum Hilfestellung durch Begrenzung derselben.
In der präventiven Jugendarbeit setzt also risflecting® wie folgt an: