Das Virus und der Rausch in seinen mannigfachen Formen: sie leben in inniger Beziehung. Denn was nun offenkundig wird, wenn uns die Wissenschaft einen ersten Überblick über konstatierte Infektionsherde gibt: die kleinen starken Viren landen weltweit mit Vorliebe dort, wo über die Stränge geschlagen wird – und leuchten damit aus, dass dies oftmals Orte der Ausgebeuteten und Ausbeuter sind – und solche kollektiven rauschhaften Geschehens. Apres Ski-Hütten und Karnevalstreiben stehen da für all jene, deren Betrieb seit geraumer Zeit verboten oder eingeschränkt wird: Festivals, Stadtfeste, politische Veranstaltungen, Nachtbars, Stadien und Sporthallen…
Nun ist also im Sinne des Infektionsschutzes der Rausch aus dem Öffentlichen verbannt – und mit ihm Pan, der alte Gott des Triebhaften, der derart trockengelegt nur mehr röchelt: damit er keine Tröpfchen absondern kann, darf er auch tunlichst keine mehr zu sich nehmen.
Das alles ist effizient, wenn auch freudlos. Und deshalb trügerisch: denn Pan ist immer noch zurückgekommen. Gerade in Zeiten, in denen uns das Lachen im Hals stecken bleibt und das Lächeln im öffentlichen Raum hinter Masken verschwindet, wird er uns schon bald durch die
Kanalisationsgitter unseres Trieblebens seine euphorisierende Schmierseife entgegenstrecken. Und wie zu Zeiten der Prohibition oder der Nazidiktatur, wie jetzt bereits in Südafrika, das zur COVID-Bekämpfung ein absolutes Alkoholverbot erlassen hat, rutschen wir – sehnsüchtig nach befreiendem Lachen -auf dieser Schmierseife aus und landen im Kontrollverlust, der Abstandsregeln, ja Regeln überhaupt als obsolet erklärt und dem Vergessen preisgibt. Das passiert nicht nur dem österreichischen Bundeskanzler und den kroatischen Wahlgewinnern beim Kontakt mit einer euphorisierten Öffentlichkeit, nicht nur den weltbesten Tennisspielern im Belgrader Menschenbad oder ekstatischen religiösen Gruppierungen – das passiert nun – unter Bezugnahme auf die angeblich wiedererlangte „Normalität“- allüberall auf Privatparties, Grillabenden, an Lagerfeuern, in kiffenden Wohnzimmerrunden, an der Theke nach dem Arbeitstag. Und in den Townships Südafrikas, wo die Armen nun „Umqomboti“, selbstgebrautes Bier aus gemeinsamen Töpfen trinken…
Denn der Rausch hat noch etwas mit dem Virus gemein: er ist mächtig.
Ihn bloß in ein quantitatives Regelwerk einzuzäunen – das Abstand, Hygiene und Kontrolle als „Eigenverantwortung“ formuliert – wird vergeblich sein: einmal, weil solches Vorgehen den fatalen Mangel an solidarischem Bewusstsein noch verstärkt – wie der irreführende Begriff „Eigen-verantwortung“ beweist, da doch Viren nicht einfach Einzelne als ihre Endziele treffen, sondern sie als Brandbeschleuniger unbeherrschbarer Infektionsketten nützen… Zum zweiten, weil die Distanz, die wir in Zeiten akut empfundener Gefährdung gesetzestreu einzuhalten geübt haben (und wohl noch lange üben sollten) uns nicht die Fähigkeit vermittelt, mit jener Nähe umzugehen, die im Außeralltäglichen und Rauschhaften entsteht. Denn gerade der Rausch ist es, der unser Alltagsbewusstsein verwässern kann und so jedes Regelwerk und festen Widerstand umgeht…
Da helfen nur qualitative Kulturtechniken, wie sie die Rausch- und Risikopädagogik in den letzten 2 Jahrzehnten etabliert hat: BREAK – RELATE AND LOOK AT YOUR FRIENDS -REFLECT. Seit Jahrtausenden sind sie es, mit denen es uns Menschen gelingt, das wilde Pferd zu reiten,
indem wir Balance üben: zwischen Lebenslust und Gesundheit, zwischen Trieb, Affekt und Verschmelzungssehnsucht und der Notwendigkeit, physical distancing zu betreiben. Aus solcherart geübter Balance kann – durchaus anmutig – eine neue Kultur des social disdancing entstehen: ein soziales Bewegungsgefühl, das statt der akklamierten Eigenverantwortung die die viel bedeutendere MItverantwortung gerade in rauschhaften Situationen abruft.
Verantwortung durch Empathie, die ja nicht in Isolation vor dem Spiegel, sondern (gerade seit der Öffnung von Gast-, Sport und Kulturstätten) im dynamischen Gruppengeschehen geübt werden will, wird durch Versuch und Irrtum erworben: denn wir alle sind jetzt Lernende. Weltweit. Besserwisser wie die Vertreter einer Partei, die ohne Mund Nasenschutz an einer Landtagssitzung teilnehmen, um machohaft Unverwundbarkeit zu demonstrieren, weil sie noch nicht verstanden haben, dass dieser vielmehr dem Schutz ihrer Mitwelt dient und seine Nutzung daher ein Akt des Respekts ist, geben kein Vorbild einer solchen neuen Verantwortung. Und auch nicht jener Unternehmer, der der Regierung die Verantwortung übergeben wollte, ob das von ihm organisierte rauschhafte Geschehen erlaubt sei oder nicht. Auch jene nicht, die andere denunzieren – und jene nicht, die „Pfeif drauf!“ rufen und auf die Schmierseife exzessiver Selbstvergessenheit steigen, um potentiell den nächsten Cluster zu bilden. Ihnen allen lässt sich nur zurufen: werden wir erwachsen, Kinder! Damit wir nach der Klimafrage nicht auch noch in der Coronaprüfung versagen.
Gerade als die, die junge Menschen ins Leben begleiten. Wie jene, die beispielsweise Schulabschlussfeiern untersagen und Jugendlichen in ihrem berechtigten Bedürfnis, den Zieleinlauf ihres langen Wegs mit ihren Wegbegleiter*innen zu feiern, allein lassen. Zwischen umsatzgetriebenen Party-löwen und angstbesetzten Rausch-inquisitoren in der Gesetzgebung braucht es gerade in dieser Zeit eine Mitte, die das urmenschliche Bedürfnis wahrnimmt, das Leben zu feiern. Wer dabei keine Hilfe von der einen wie der anderen Seite erfährt, kann sich in entscheidenden Lebenssituationen nicht festigen (was der Sinn von Festen ist). Dann dürfen wir uns nicht wundern, dass die UNO und psychologische Fachverbände gerade heuer einen massiven Anstieg psychischer Erkrankungen fürchtet…
Eine neue Rauschkultur wagt die Balance zwischen den Extremen: lebensfroh lädt sie Pan ein, mit Ihr neue Grußformen, Erfahrungen von Gruppenintensität, Tanz- und Substanzrituale in die Welt zu setzen. Anstelle von Vorschriften setzt sie ihre poetische Kraft und hilft, muntere Bande(n) zu bilden, die an ihren offenen Augen, Ohren und Mündern, an ihrem Entdeckungsmut neuer sozialer Begegnungs- und Berauschungsformen zu erkennen sind. Das alles ist schließlich während der AIDS-Pandemie ebenso gelungen: damals wie heute braucht es dazu den tabufreien Dialog, der lustvolle Intensität und liebevolle Aufmerksamkeit zusammenführt.
Das alles erlaube ich mir als Rausch- und Risikopädagoge zusammenzudenken. Noch einmal: die Menschheit hat nach jedem ihrer Schleudertraumata Kulturtechniken gefunden, zwischen ungehemmtem Affekt und zwanghafter Kontrolle Balance zu finden – sie heißen Empathie und Genuss. Kultivieren wir sie!
Gerald Koller
Entwickler pädagogischer Innovationen im Bildungs- und Gesundheitsbereich, als erster Österreicher in das weltweite Netzwerk making more health berufen.
www.risflecting.eu – www.qualitaetleben.at